Systemtheorie (Luhmann)

Die Luhmannsche Systemtheorie ist eine Spielart der Systemtheorie des deutschen Soziologen Niklas Luhmann, in welcher die Welt als grundlegend aus autopoietischen Systemen bestehend betrachtet wird, welche klar von ihrer Umwelt getrennt sind. Einen besonderen Einfluss hatte diese auf die Soziologische Systemtheorie als eine soziologische Theorie, in welcher die Gesellschaft als ein umfassendes soziales System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt, beschrieben und erklärt wird. Er beschreibt, wie unter diesen Voraussetzungen Soziales entsteht und sich durch funktionale Differenzierung in verschiedene soziale Systeme abgrenzt.

Die Theorie ist von traditionellen Denkweisen und Ausgangspunkten komplett abgegrenzt. Luhmann lehnt ontologische und transzendentalphilosophische Voraussetzungen und auch den Subjektbegriff ab. Ausgenommen ist die Eingangsthese Es gibt Systeme / Es gibt selbstreferentielle Systeme, die für Luhmann mit keinem erkenntnistheoretischen Zweifel verbunden ist. Luhmanns Theorie gilt zusätzlich unter anderem deshalb als besonders komplex, weil sie den Selbstbezug als Thema behandelt und gleichzeitig auf sich selbst Bezug nimmt.

Die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie als Hauptwerk Luhmanns in Monographien besteht in der Grundlegung der Begriffe und Unterscheidungen, in darauf folgenden Beschreibungen verschiedener ausdifferenzierter sozialer Systeme und schließlich in der Erklärung der Gesellschaft als umfassendes soziales System.

Theoretische Grundentscheidungen

Statt von Einheiten auszugehen, die durch ihre Beziehungen einzelne Systeme bilden und dadurch letztlich an Gesellschaft teilhaben, geht Luhmann auf einer sehr abstrakten Ebene von Ereignissen und von Differenzbildungen aus. Ereignisse schließen sich in spezifischer Weise und in spezifischen Medien an vorangegangene gleichartige Ereignisse an. Durch diese – gegenüber andersartigen Operationen geschlossenen – Operationsweisen entstehen Systeme, und mit diesen Systemen entstehen ihre systemspezifischen Umwelten. Die Operationsweise sozialer und psychischer Systeme ist autopoietisch, und die Operationen bilden abgeschlossene Kreisläufe: Die Operationen verschiedener Systeme durchdringen sich nicht, Operationen eines Systems können nicht direkt an Operationen eines anderen Systems anschließen. Dies ist unabhängig davon, dass handelnde Menschen und Folgen von Handlungen beobachtet werden. Das umfassende soziale System Gesellschaft differenziert sich dadurch in weitere soziale Systeme aus. Luhmann setzt den evolutionären Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems in unterschiedliche soziale Systeme als zentralen Bestandteil seiner soziologischen Theorie und nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf historische Gesellschaftsformen und auf die Geschichte gesellschaftlicher Entwicklungen.

Die Operationen, durch die soziale Systeme entstehen, sind als Kommunikationen beschrieben, die sich über spezifische Medien und auf spezifische Weise an vorangegangene gleichartige Kommunikationen anschließen. Die Operation Kommunikation ist dabei als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen beschrieben. Information, Mitteilung und Verstehen sind für Luhmann Selektionen. Die autopoietische Operation Kommunikation ist in diesem Sinne keine Übertragung oder Handlung, sondern ein Prozessieren von Selektion oder eine Synthese dreier Selektionen. Der Kommunikationsbegriff kommt ohne den Begriff der Intentionalität und Sprachlichkeit aus. Kommunikation als Synthese der Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen kann nicht auf einzelne Bewusstseine oder Individuen zurückgeführt werden – auch wenn es für den Fortgang der Kommunikation notwendig ist, die Mitteilung als Handlung zuzurechnen und Kommunikation vereinfachend mit dem Handlungsbegriff zu beschreiben. Kommunikationen – nicht Menschen, Gedanken oder individuelle Handlungen – sind die Letztelemente sozialer Systeme.

Bewusstseine sind als psychische Systeme beschrieben. Die Letztelemente psychischer Systeme sind Gedanken. Gedanken folgen auf Gedanken in einem Medium, das Luhmann als Sinn beschreibt. Bewusstseine sind ebenso wie soziale Systeme als sinnverarbeitende Systeme beschrieben. ihre Grenzen sind Sinngrenzen. Die Sichtweise auf Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem ist evolutionär. Systeme und Umwelten – und damit auch Systeme und andere Systeme – entstehen und entwickeln sich durch gleichzeitiges Operieren. Die Zeit spielt eine wesentliche Rolle bei der Erklärung sozialer Vorgänge.

Ein Ausgangspunkt der Theorie ist die These der radikalen Trennung der Systeme in Bezug auf ihre Operationen. Auf der Ebene der Erfahrung und bezogen auf Bewusstseine wird mit der Setzung dieser Trennung die Unmöglichkeit benannt, dass der Eine die Gedanken des Anderen als solche und identisch erfahren kann, und dass der Eine folglich seine Gedanken nicht unmittelbar und direkt an die Gedanken des Anderen anschließen kann. Im Zusammenhang damit steht die Erfahrung, dass nicht alles, was gedacht wird, auch gesagt wird, dass also nicht alle Gedanken in die Kommunikation eingehen. und umgekehrt die Unmöglichkeit, alles Mitgeteilte komplett zu verstehen und in Form von Gedanken weiter zu prozessieren. Nicht alle Verstehensmöglichkeiten, die durch Kommunikation entstehen, werden auch realisiert. Darüber hinaus wird Kommunikation stringent als Prozess aufgefasst, der übergreifend ist und nicht durch den Rückgriff auf individuelle Bewusstseine erklärt werden kann.

Auch die Theorie selbst ist zirkulär angelegt: Gesellschaft wird nicht als etwas Bestehendes angesehen, das durch eine von ihr unabhängige Theorie beschrieben und erklärt werden kann, sondern als ihre eigene Theorie einschließend. Die Theorie des umfassenden Sozialsystems entsteht in der Gesellschaft, die durch sie beschrieben und erklärt wird. Luhmann schließt an den Gesellschaftsbegriff der alteuropäischen Tradition an, grenzt sich aber vor allem durch die Denkweise der Zirkularität von der alteuropäischen Tradition, von der klassischen zweiwertigen Logik und der ontologischen Realitätsauffassung ab. Es geht ihm um die Neubeschreibung der Kernaussagen der alteuropäischen Tradition. Die Abgrenzung von traditionellen erkenntnistheoretischen und soziologischen Ansichten, die Einführung von Paradoxien in die Theorie und die diesbezügliche Auseinandersetzung mit der Literatur und der Geschichte der Traditionen nimmt in den Texten Luhmanns breiten Raum ein. Eine leitende Frage, die durch diesen Neuansatz entsteht, und die Luhmann bei der Darlegung der Theorie häufig thematisiert, ist die Frage, ob und wie Kommunikation eine Operation sein kann, die zur Emergenz und operativen Schließung eines eigenständigen sozialen Systems mit einer eigenen, nicht wahrnehmbaren, sondern nur denotierbaren Umwelt führt, die Frage, wie eine Autopoiesis des Sozialen möglich ist.

Zugang zur Theorie Luhmanns

Die Luhmannsche Systemtheorie ist ein selbstreferentielles Produkt, sodass ein Verständnis von Teilen der Systemtheorie fast immer das Verständnis anderer Teile voraussetzt. In seinen Veröffentlichungen fiel es Luhmann dementsprechend auch mitunter schwer, eine Reihenfolge der Kapitel festzulegen. Daher bereitet auch ein erster Einstieg in die Systemtheorie oftmals Schwierigkeiten.

Erkenntnistheoretische Voraussetzungen

Luhmann schließt sich den zu seiner Zeit besonders diskutierten Grundannahmen der konstruktivistischen Denkweise an. Wirklichkeit wird darin als Resultat eines Konstruktionsprozesses angesehen, der auf die eigenen Bedingungen des Erkennens zurückgeführt wird und nicht auf die Bedingungen einer erkenntnisunabhängigen Realität. Erkenntnisprozesse werden angestoßen, aber sie stehen auch dann unter eigenen, beispielsweise körperlichen Bedingungen. Auch die Unterscheidung, ob dieser Anstoß von innen oder außen kommt, wird nachträglich gemacht und steht wie alles andere auch unter den eigenen Bedingungen. Eine vom Erkenntnisprozess unabhängige Realität, von der alle Erkenntnis ausgelöst wird und auf die alle Erkenntnis gerichtet sei, wird im Konstruktivismus nicht als Bestandteil von Erklärungen und Theorien verwendet. Stattdessen wird dem Begriff des Beobachters, der seine Wirklichkeiten konstruiert, eine besondere Bedeutung beigemessen.

Luhmann bedient sich indes einer erkenntnistheoretischen Setzung, indem er sagt, dass es Systeme gibt. Diese Setzung kann als ontologisch aufgefasst werden, also als Behauptung eines erkenntnisunabhängigen Fixpunkts, auf den Luhmann seine Theorie bezieht. Die Annahme, dass für den Beobachter keine erkenntnisunabhängige Wirklichkeit vorhanden sei, fußt demnach bei Luhmann auf einer Aussage, mit der Erkenntnisunabhängiges behauptet wird: Es gibt Systeme.

Abgrenzung vom Handeln und vom Subjekt als zentralem Begriff

Mit der alltäglichen Vorstellung von handelnden Menschen, die durch ihre Beziehungen Systeme bilden, ist kein Zugang zur Systemtheorie Luhmanns zu finden. Es entstehen sofort unauflösbare Widersprüche der Sätze Luhmanns zu den allgemein verstandenen Auffassungen. Eine Annäherung kann dagegen gelingen, wenn die Texte Luhmanns nicht sofort auf alltägliche Beobachtungen bezogen werden, sondern zunächst als Beschreibungen und Erklärungen höchst abstrakter Ereignisse aufgefasst werden, und wenn dabei zwei Ebenen auseinandergehalten werden: die Ebene der Konstitution, das heißt die Ebene des Entstehens und Weiterbestehens sozialer Systeme und die Ebene der Beobachtung, das heißt die Ebene derBeobachtung undBeschreibung, die durch die Systeme selbst geschieht.

  1. Soziale Systeme entstehen und erhalten sich durch Kommunikation.
  2. Die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Systeme geschieht als Zurechnung von Handeln.

Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, geben wir mithin die Doppelantwort: aus Kommunikationen und deren Zurechnung als Handlung. Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme.Kommunikation als Begriff der Systemtheorie beschreibt eine abstrakte Operation und kein Handeln im allgemein verstandenen Sinne. Auch die Zurechnung ist eine abstrakte Operation. Damit erläutert Luhmann, dass Kommunikation – eine übergreifende, Selektionen synthetisierende Operation – dennoch als Handlung wahrgenommen wird. Dass handelnde Menschen beobachtet werden, wird von der Systemtheorie also keinesfalls ausgeschlossen, jedoch anders erklärt: als Resultate der spezifischen Operationen von Systemen. Das heißt: Menschen und Handlungen kommen zwar auf der Ebene der Beobachtungen vor, die Ebene der Konstitution lässt sich mit diesen Begriffen jedoch für Luhmann nicht beschreiben und erklären.

Hintergrund ist das Ziel Luhmanns, klassische, alteuropäische und subjektivistische Denktraditionen aufzugeben und die Gesellschaft völlig anders zu denken. Subjekt und Handlung sind für Luhmann keine elementare Einheiten, aus der sich soziale Systeme bilden. Die Erläuterung dieses Ziels nimmt viel Raum in den Texten Luhmanns ein und wird an vielen Stellen auf verschiedene Art und Weise wiederholt. … mit Hilfe der Vorstellung, daß Systeme mit ihren eigenen Operationen eine Beschreibung von sich selbst anfertigen und sich selbst beobachten können, läßt sich der Zusammenhang von Kommunikation, Handlung und Reflexion aus der Subjekttheorie herauslösen. Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft an, ändert das die Prämissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch die Prämissen des klassischen Humanismus. Das heißt nicht, daß der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet hat den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen.

Eigenschaften von Systemen

Differenz von System und Umwelt statt Differenz von Teil und Ganzem

Verbreitete Vorstellungen von Systemen betreffen Einzelteile, die zu einem Ganzen verbunden werden oder sich selbst zu einem Ganzen verbinden. Eine Gesellschaft besteht nach diesen Vorstellungen aus einzelnen Menschen und ihren Beziehungen. Diese Ideen stammen teilweise aus der Antike. Gesellschaftliche Prozesse wie die Entstehung oder Organisation wurden mit sozialen oder göttlichen Mächten erklärt.

Für Luhmann hingegen ist erstes Kriterium die von ihm behauptete Tatsache, dass ein System sich prinzipiell gegen seine Umwelt abgrenzt. Es gibt also immer etwas, was zum System gehört, und etwas, was nicht dazu gehört. Auch andere Systeme gehören zur Umwelt. Diese Differenz System/Umwelt liegt der gesamten Systemtheorie zugrunde.

Autopoiesis

Eine weitere wesentliche Voraussetzung für das Vorhandensein eines Systems ist die Fähigkeit, sich selbstherzustellen, also die Autopoiesis. Der Merksatz im Luhmannschen Sinne lautet: Wenn es sich nicht selbst macht, ist es kein System. Dabei bezog sich Luhmann auf das Konzept der chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Diese wendeten das Konzept der Autopoiesis auf organische Prozesse an und meinten damit, dass Systeme sich mit Hilfe ihrer eigenen Elemente selbst herstellen. Lebewesen sind die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Für den Beobachter ereignet sich Leben von selbst, ohne dass ein äußerer herstellender Prozess eingreift. Luhmann überträgt dieses Konzept nicht nur auf biologische Systeme, sondern auch auf psychische Systeme und insbesondere soziale Systeme. Auch diese reproduzieren sich selbst mit Hilfe ihrer systemeigenen Operationen

Geschlossenheit der Operationen

Luhmann versteht unter Operation die Reproduktion eines Elements eines autopoietischen Systems mit Hilfe der Elemente desselben Systems. Ein System entsteht und erhält sich dadurch, dass Operationen aneinander anschließen. Wenn organische Prozesse als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein organisches System. Wenn Gedanken als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein psychisches System. Wenn Kommunikationen als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein soziales System.

Ein System besteht so lange, wie Operationen jeweils nächste gleichartige Operation ermöglichen. Operationen müssen anschlussfähig sein. Wie eine Operation abläuft, hängt von der jeweils vorangegangenen Operation ab. Deshalb werden diese Systeme als operational geschlossen aufgefasst. So schließt beispielsweise im psychischen System stets Bewusstsein an Bewusstsein an: Bewusstsein ist der Operationsmodus psychischer Systeme. Systemfremde Operationen wie Kommunikationen können daran nicht anschließen. Entsprechend können Bewusstseinsinhalte auch nicht an organische Operationen angeschlossen werden oder umgekehrt. So wenig wie ein Organismus jenseits seiner Haut weiterleben… oder ein Auge Nervenkontakt mit dem, was es sieht, herstellen kann, so wenig kann ein psychisches System sein Bewußtsein operativ in die Welt hinein verlängern. Dieser Ausschluss gilt sogar für die Umwelt des eigenen Körpers. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass jedes dieser Systeme unabhängig voneinander existieren könnte. Selbstreferentielle Geschlossenheit ist nur in einer Umwelt, ist nur unter ökologischen Bedingungen möglich. Aufgabe der Systemtheorie ist es also, zu erklären wie es möglich ist, dass alle diese Systemtypen trotz irreduzibler Geschlossenheit zusammenhängen und in Kontakt stehen.